2021: Ein besonderes Jahr
Die Bundestagswahl 2021 findet in einem besonderen Jahr statt, denn die Corona-Krise bedeutet einen tiefen Einschnitt für unsere Gesellschaft.
Schon im April 2020 hat der BV NeMO gewarnt: „Die Corona-Krise bedeutet: Hohe gesundheitliche und soziale Risiken. Unsere Befürchtung ist: Es besteht die Gefahr einer Verschärfung sozialer Benachteiligungen und höherer Arbeitslosigkeit, aber auch eines sich verstärkenden Rassismus, in der Krise und als Folgen der Krise. Wenn dies geschieht, werden Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte davon erheblich betroffen sein. Wir fordern: Das darf nicht geschehen!“
Heute ist es offenkundig: die Befürchtungen waren nur allzu berechtigt. Und: die Corona-Krise ist noch lange nicht vorbei. Die soziale Schieflage nimmt zu, denn vulnerable Gruppen waren von der Pandemie besonders betroffen. Dies gilt auch für Migrierende und Geflüchtete. Neben den gesundheitlichen sind verstärkt die sozialkulturellen Benachteiligungen zu kompensieren.
Im Bundesverband Netzwerke von Migrantenorganisationen (BV NeMO) sind bundesweit 22 lokale Verbünde mit insgesamt über 700 Mitgliedsvereinen aus über 100 Herkunftsländern zusammengeschlossen. Gleichgültig, was ihre Herkunft, ihre besondere Geschichte und Kultur ist: Sie eint ihr Engagement vor Ort, nahe bei den Menschen. Nahe bei den Menschen: von hier aus haben unsere Wahlprüfsteine ihre Begründung. Gute Politik in einer demokratischen Gesellschaft muss dort, wo die Menschen leben, erfahrbar sein.
Gute Bildung für alle: Jetzt besonders dringlich
Die Corona-Krise mit ihren langen Phasen der Schulschließungen und des Distanz- oder Wechselunterrichts bringt die Gefahr erheblicher Bildungsbenachteiligungen mit sich. Davon sind Kinder von Migrant*innen und Geflüchteten überproportional stark betroffen. Schon im Mai 2020 hatte der BV NeMO gewarnt: Kinder und Jugendliche aus Familien mit Einwanderungsgeschichte wie andere in sozialen Risikolagen werden in besonderer Weise davon betroffen sein.
Gleicher Zugang zu Bildung ist eine grundlegende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Corona-Nachhilfe im üblichen Sinne ist kein ausreichender Ansatz.
Was tun?
- Kurzfristig muss das Programm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ stärker auf die Förderung von Lernfreude und Motivation orientiert, stark lokal ausgerichtet und unter Beteiligung von Migrant*innen-Organisationen durchgeführt werden.
- Für die Mobilisierung von Lernfreude und Bildungsinteresse ist die lokale Ebene von entscheidender Bedeutung. Die Kommunen und ihre kommunale Koordinierung bzw. ihr kommunales Bildungsmanagement müssen deshalb so ausgestattet werden, dass sie in Kooperation mit vielen lokalen Partner*innen die „nachholende Bildung“ gezielt an jene bringen, die sie besonders dringend brauchen. Migrant*innen-Organisationen sind dabei als Partner unverzichtbar.
- Gute und zukunftsorientierte Bildungspolitik braucht eine enge Zusammenarbeit von Ländern, Kommunen und Bund. Deshalb gehört auch die Qualität von Schulen zu unseren Wahlprüfsteinen. Schulen dürfen keine „Lernmaschinen“ sein. Sie sind ein wichtiger sozialer Ort, der aktiv zur Stadtgesellschaft geöffnet werden muss. Die Vereins- und Bildungsarbeit der Migrant*innen-Organisationen vor Ort zeigt: Gemeinsame Aktivitäten außerhalb des engen schulischen Zusammenhangs bringen viele Bildungsimpulse! Schulen brauchen solche Bildungspartner. Eltern mit Migrations- oder Fluchtgeschichte müssen einbezogen werden: sie brauchen mehr Informationen über das Schulsystem und ihre Rechte und sie brauchen Unterstützung und Ermutigung. Für jüngere Kinder empfehlen sich auch Eltern-Kind-Aktivitäten.
- Das Erlernen der deutschen Sprache, die Pflege der Muttersprache und die Förderung von Mehrsprachigkeit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Schulen sind zur Förderung von Mehrsprachigkeit angemessen auszustatten. Die Herkunftssprache der Kinder als zweite Fremdsprache ist anzuerkennen und in Schulen als offene Angebote für alle Schüler*innen anzubieten. Erforderlich ist ein umfassendes Programm zur Aus- und Weiterbildung von zusätzlichen Lehrkräften, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten.
- Schulbesuch und Kindertagesbetreuung müssen für alle Kinder und Jugendlichen leicht zugänglich und selbstverständlich sein und auch unabhängig vom Aufenthaltsstatus überall gelten.
- Mehrsprachigkeit ist als eine Ressource anzuerkennen und gezielt zu fördern.
- Allen eingewanderten und geflüchteten Menschen sind unmittelbar nach ihrer Ankunft kostenlose Sprachkurse zur Verfügung zu stellen. Integrationskurse sind für alle Geflüchteten – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder ihrer Bleibeperspektive – anzubieten.
- Erwachsenenbildung für Migrant*innen und Geflüchtete – auch über Deutschkurse hinaus – muss kritisch reflektiert und neu konzipiert werden. Dabei sollen Migrant*innen-Organisationen stark beteiligt werden.
Für eine humane Asylpolitik
Die Werte einer Einwanderungsgesellschaft zeigen sich in besonderer Weise in ihrem Umgang mit jenen, die bei uns Schutz und Perspektiven suchen. Dies ist ein Gradmesser für Menschenwürde und Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft. Die Verhältnisse an den Außengrenzen der EU sind menschenverachtend und skandalös. Deutschland ist mitverantwortlich und hat selbst die Asylverfahren verschärft. Faire Asylverfahren und eine würdige Aufnahme von Menschen mit Fluchtgeschichte: das sind Merkmale eines gelebten guten Einwanderungslandes.
In unserer Arbeit vor Ort treffen wir auf viele Geflüchtete, die sich in einer verzweifelten Lage befinden.
Der BV NeMO stimmt mit dem Deutschen Städtetag in wichtigen Punkten überein. Dieser erklärt u.a.: „Geduldete Menschen sind Teil der Gesellschaft. Unabhängig von ihrem Status leben sie teilweise seit mehreren Jahren in den Städten… Ohne ein Mindestmaß an Unterstützungsleistungen entstehen nach der kommunalen Erfahrung vielfältige Problemlagen. Das steigert Ressentiments gegenüber asylsuchenden Menschen insgesamt… Die Städte werden jedoch mit der notwendigen Unterstützung dieses Personenkreises allein gelassen.“
Die Arbeit mit Geflüchteten ist und bleibt eine lokal-kommunale Daueraufgabe und muss entsprechend gesichert und ausgestattet sein.
Was tun?
- Zunächst und dringlich: Verbindliche und einklagbare soziale Standards für die Unterbringung und Versorgung schutzsuchender Menschen in den Landesunterkünften und Kommunen einführen und die Unterbringung in Wohnungen statt in Massenunterkünften forcieren.
- Mehrsprachige Information, Schutz und weitere Unterstützung in Hinblick auf die gesundheitlichen und sozialen Problematiken der Corona-Krise.
- Die Bereitschaft von Kommunen, z.B. im Rahmen des Netzwerks „Sichere Häfen“, Menschen auf der Flucht aufzunehmen, anerkennen und die Aufnahme weder untersagen noch behindern.
- Eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive für hier lebende Menschen ohne deutschen Pass schaffen, die sich hier ein eigenes Leben aufbauen wollen.
- Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes: Asylsuchende müssen in die regulären Sozialsysteme einbezogen werden.
- Vollen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Geflüchteten ermöglichen und qualifizierte Dolmetscher*innen-Dienste für das Gesundheitswesen finanzieren und zur Verfügung stellen.
- Die Strukturen der kommunalen Geflüchtetenarbeit sichern und verstetigen, einschließlich kostenloser Rechtsberatung für Schutzsuchende, und hierin insbesondere die Rolle der Migrant*innen-Organisationen stärken.
- Unter dem Aspekt einer humanen Geflüchtetenpolitik: Überprüfung der bisherigen Anerkennungs- und Abschiebepolitik und -praxis, zügige Entwicklung von Konzept und politischer Strategie einer Revision der bisherigen europäischen Politik gegenüber der Fluchtmigration unter beratender Einbeziehung von Migrant*innen- und Menschenrechtsorganisationen.
- Abschaffung aller sozialen Einschränkungen, die mit dem Duldungsstatus verbunden sind.
Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung
Rassismus ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Jede Krise – wie auch jetzt die Corona-Krise – aktualisiert ihn und bringt ihn noch deutlicher zutage. Demgegenüber: das Anti-Rassismus-Programm der Bundesregierung ist bisher vor allem bedrucktes Papier.
Was tun?
Ein bundesweites Sofortprogramm ist gegen institutionellen und Alltagsrassismus dringend erforderlich; unter aktiver Mitwirkung von Migrant*innen-Organisationen „auf Augenhöhe“. Sie sollen nicht nur das Programm kritisch begleiten, sondern es mitgestalten, mit umsetzen und ein Monitoring mitführen. Dieses Sofortprogramm muss u. a. folgende Themenbereiche beinhalten:
- Flächendeckender Ausbau von Antidiskriminierungs- bzw. Antirassismusstellen neben der kommunalen Verwaltung mit maßgeblicher Beteiligung von Migrant*innen-Organisationen als Träger und ihre Verknüpfung mit Beratungsstrukturen auf kommunaler Ebene für die Bekämpfung des Rassismus und sozialer Diskriminierung
- Verabschiedung von Antidiskriminierungsgesetzen in allen Bundesländern
- Förderung und Stärkung von Antirassismusstellen auf der Landes- und Bundesebene mit Beteiligung von Migrant*innen-Organisationen als Träger
- Eine bundesweite Kampagne zur Aufklärung über institutionellen und Alltagsrassismus
- Verbindliche Begleitforschung zu Good-Practice-Lösungen gegen Rassismus und Diskriminierung
- Verankerung nichtrassistischer und nichtdiskriminierender Verfahren, Prozesse und Verhaltensweisen in allen Regelstrukturen als Qualitätskriterien einschließlich der Polizei & Bundeswehr
- Förderung von geschützten Begegnungsräumen für Betroffene aller Diskriminierungsformen
- Stärkung vorhandener Opferschutzorganisationen
- Etablierung eines mehrsprachigen „Rassismus-Beschwerde-Portals“ für systematische und differenzierte Dokumentation von Alltagsrassismus und institutionellem Rassismus
- Rassismuskritische Bildung und stärkere Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte im Bildungssystem: von der Grundschule bis hin zu Hochschule.
Teilhabe: mit guter Arbeit
Besonders Ältere, Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende, Migrant*innen und Geflüchtete werden auf dem Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz benachteiligt. Der Arbeitsmarkt ist zunehmend fragmentiert. Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Niedriglohn, Werkverträge und Minijobs prägen immer mehr die Arbeitslandschaft. Die Corona-Pandemie verschärft auch die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt. Davon sind Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte überproportional betroffen.
Was tun?
- Ein umfassendes flächendeckendes vielfaltorientiertes Mainstreamingkonzept für die Öffnung öffentlicher Institutionen und Behörden und die Erhöhung des Anteils der Beschäftigten mit Migrations- oder Fluchtgeschichte im öffentlichen Dienst durch Einführung einer Quote entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung mit einer gezielten Einstellungspolitik und Höherqualifizierungsmaßnahmen u.a. in Unternehmen.
- Umwandlung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in tarifvertraglich gesicherte mit einem Lohn, der eine eigenständige Lebensführung sichert.
- Aufwertung der Arbeit in Branchen mit besonders hohen Anteilen von Arbeitnehmer*innen mit Einwanderungsgeschichte: Erhöhung der Einkommen, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Zugang zu Weiterbildung, bei Saisonarbeiter*innen: menschenwürdige Unterkünfte.
- Flächendeckende spezielle Informations-, Förder- und Begleitmaßnahmen für benachteiligte junge Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, damit sie einen Ausbildungsplatz finden bzw. eine Ausbildung erfolgreich beenden.
- Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse vereinfachen und beschleunigen. Mehr Möglichkeiten für Anerkennung von Kompetenzen und Fähigkeiten der Menschen, die außerhalb von Deutschland erworben wurden aber nicht mit einem Zertifikat nachzuweisen sind.
- Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylsuchende in den ersten drei Monaten.
Gleiche politische Rechte für alle
Über elf Millionen Menschen in Deutschland sind nicht eingebürgert und haben deshalb kein Wahlrecht. Das Wahlrecht und die Einbürgerung stärken das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen. Es ist ein Demokratiedefizit, wenn Millionen Menschen kein Wahlrecht haben. Wir fordern die volle rechtliche Gleichstellung nicht zuletzt durch erleichterte Einbürgerung und das Wahlrecht für alle, die hier dauerhaft leben.
Was tun?
- Die Voraussetzungen und das Verfahren der Einbürgerung wesentlich reduzieren bzw. vereinfachen und Gebühren abschaffen. Einbürgerungsinitiativen von Ländern und Kommunen müssen gefördert werden.
- Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigkeiten erleichtern.
- Das Wahlrecht für alle, die hier dauerhaft leben, ist zügig zunächst auf der kommunalen Ebene einzuführen.
Masterplan „Über Corona hinaus“
Der vom BV NeMO aufgerufene bundesweite Aktionstag „Wir Migrant*innen schlagen Alarm! Corona-Krise macht ungleicher!“ am 26. Februar 2021 löste ein großes Echo aus und zeigte Betroffenheit und Sorge um negative Corona-Folgen. Corona als tiefer Einschnitt in unsere Gesellschaft betrifft alle Lebensbereiche. Was uns besonders dringlich und wichtig ist, zeigen die Wahlprüfsteine.
Aber die Corona-Krise setzt den Entwicklungsstand und die Qualität der Einwanderungsgesellschaft Deutschland auf den Prüfstand. Die Folgen der Pandemie sind nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialkultureller Natur – entsprechend sind Kompensationsprogramme breit aufzustellen. Gerade jetzt, im Wahljahr 2021, gilt: Vermeidung sozialer Ungleichheit, Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung sowie die Stärkung der Teilhabe sind Notwendigkeiten über den Tag hinaus.
Deshalb fordern wir von der Bundesregierung einen Masterplan: Solidarisch aus der Corona-Krise. In Bund, Land und Kommune mit Migrant*innen-Organisationen.